Volksentscheid fürs Klima

Warum Deutschland "Berlin 2030 klimaneutral" braucht

Für die Politik gibt es immer Gründe, konsequenten Klimaschutz aufzuschieben. Der Volksentscheid "Berlin 2030 klimaneutral" zeigt: Für die Transformation zu einem klimaneutralen Land brauchen wir Städte, die vorangehen und den Bund in die Pflicht nehmen. Und zwar nicht für "das Klima", sondern für die Menschen in den Städten.

LocalZero / Klimaentscheide Lokalgruppen
17.02.2023
GermanZero

Am 26. März 2023 stimmen die Berliner:innen per Volksentscheid darüber ab: Soll ihre Stadt bereits 2030 klimaneutral werden? Mehr als 180.000 Bürger:innen haben das vorausgehende Volksbegehren "Berlin 2030 klimaneutral" unterschrieben. Der Berliner Senat dagegen lehnt die darin geforderten Gesetzesänderungen ab. Zur Abstimmung stehen fünf Änderungen am Berliner Klimaschutz- und Energiewendegesetz: 

· Klimaneutralität bis 2030 anstatt wie aktuell 2045
· Klimaschutzverpflichtungen anstelle von unverbindlichen Klimaschutzzielen
· Reduktionsverpflichtungen für alle Treibhausgase, nicht nur CO2
· Sozial gerechter Ausgleich
· Die Reduktion von Treibhausgasen soll Vorrang vor deren Kompensation haben 

"Erst mal müssen die anderen ran!" gilt beim Klimaschutz nicht

Fernsehturm Berlin
261.968 Stimmen sammelte die Initiative "Klimaneustart Berlin" für das Volksbegehren, 180.000 wurden schließlich als gültig gewertet. / Credits: Klimaneustart Berlin

Der Berliner Senat lehnt das Volksbegehren ab, auch wenn er das grundsätzliche Anliegen teilt. Sein Hauptargument: Das Land Berlin habe nicht ausreichend Einfluss auf alle Faktoren, die für die Klimaneutralität eine Rolle spielen. Die Weichen dafür würden im Bund und in der EU gestellt.[1]

Doch mit dieser Ausrede wird im Klimaschutz seit Jahrzehnten Verantwortung abgeschoben. Die Begründung: "Wir können nicht schneller, weil andere weniger ehrgeizige Ziele haben" darf nicht mehr gelten. Der Berliner Volksentscheid wird hoffentlich bestätigen, was die 180.000 Unterschriften schon gezeigt haben: dass die Bürger:innen davon überzeugt sind, dass ihre Stadt beim Klimaschutz vorangehen soll - und das auch kann.

"Die Geschichte hat uns mehrmals gezeigt - bei der Mondlandung oder zuletzt beim Bau der LNG-Terminals - wenn der politische Wille da ist, wird das Undenkbare machbar," so Stefan Zimmer, von der Initiative "Klimaneustart Berlin," die Teil des kommunalen Netzwerks LocalZero von GermanZero ist. 

Doch bislang will die Stadt Berlin wie auch die Bundesregierung erst bis zum Jahr 2045 klimaneutral werden. Damit ignoriert die Politik konsequent, dass uns die Zeit davonläuft: Es gibt eine harte physikalische Grenze, die vorgibt, wann das Land und seine Städte klimaneutral werden müssen: das globale Restbudget für Treibhausgase. Damit die Menschheit zumindest noch eine 2/3-Wahrscheinlichkeit hat, die 1,5-Grad-Grenze zu halten, darf sie nur noch 460 Gigatonnen an CO2, Methan und anderen Gasen ausstoßen.[2] Gleichmäßig auf alle Erdenbürger:innen verteilt, bleibt den 3,6 Millionen Berliner:innen ein Anteil von 335 Millionen Tonnen, die sie noch in die Luft blasen "dürfen". Danach muss Schluss sein.[3] Lässt sich die Stadt jedoch bis 2045 Zeit, um von Kohle, Öl und Gas loszukommen, wird sie diese Menge bei weitem überschreiten.

Das Ziel "Berlin 2030 klimaneutral" stammt aus dieser Erkenntnis: Es bleibt einfach nicht mehr Zeit, um das Restbudget für "1,5 Grad" einzuhalten. 

Das Momentum nutzen

Anstatt auf ehrgeizigere Zielvorgaben aus dem Bund zu warten, braucht es also Menschen, Städte, Bundesländer, die vorangehen und andere mitreißen. Berlin als größte Stadt Deutschlands kann im In- und Ausland als Leuchtturm wirken, der ausstrahlt: Der Ausstieg aus der fossilen Verbrennung muss viel schneller gehen! Wir fangen einfach mal an! Dafür kann die Stadt die Energie einer Bewegung nutzen, die schon längst ins Rollen gekommen ist: Paris, Rom, Lissabon, Sofia, Bukarest, Amsterdam, Kopenhagen, Athen, Barcelona sind nur die größten von insgesamt 100 Städten in ganz Europa die im Rahmen der EU-Mission „100 klimaneutrale und smarte Städte bis 2030“ bis 2030 klimaneutral sein wollen (Projektbeschreibung[4], Übersichtskarte[5]). 

"Es ist nicht zu spät!" Unterschriftensammlerinnen im Sommer 2022 / Credits: Klimaneustart Berlin

In Deutschland haben mehr als 70 Städte mit insgesamt über 10 Millionen Einwohnern bereits beschlossen, spätestens 2035 klimaneutral zu sein[6] [7]). Von Aachen im Westen bis Dresden im Osten, vom kleinen Bargteheide im Norden bis zur Millionenstadt München im Süden erstreckt sich dieses stetig wachsende Netz der Pionier-Kommunen. In 37 dieser Städte waren es die Teams von LocalZero, die politische Mehrheiten organisiert und einen Beschluss des Stadtparlaments für Klimaneutralität erreicht haben. 

Mit dem Volksentscheid hat Berlin die Chance, sich diesen Pionier-Städten anzuschließen, Allianzen zu schmieden und den Klimaschutz so schnell voranzutreiben wie es nötig ist. 

Es gibt noch einen zweiten Grund, weshalb die Zeit zu entschlossenem Handeln drängt: Klimaschutz ist Bürger:innenschutz. Jede Stadt muss sich gegen jene Folgen der Erderhitzung zu wappnen, die nicht mehr zu verhindern sind. Berlin zählt dabei zu den Städten, die besonders stark betroffen sein werden.

Schlägt die Stadt jetzt den Weg zur Klimaneutralität ein, kann sie sowohl helfen, die Klimakrise zu bremsen als auch ihre Bewohner:innen für den Wandel wappnen. Doch zaghafte Maßnahmen in unbestimmter Zukunft reichen nicht. Wir brauchen nicht weniger als eine grundlegende Transformation der Städte.

Nur ein Beispiel: Ohne ausreichenden Klimaschutz wird es zum Ende des Jahrhunderts in jedem Berliner Sommer rund 15 so genannte Tropennächte geben, in denen keinerholsamer Schlaf möglich ist, was besonders die Gesundheit vulnerabler Gruppen wie Kranke, Kleinkinder und alte Menschen gefährdet.[8] Bereits jetzt starben in Deutschland in den ungewöhnlich heißen Sommern der letzten Jahre mehr als 19.000 Menschen infolge der Hitze.[9]

Straße des 17. Juni autofrei
Entsiegelte Flächen in der "Schwammstadt": So könnte die Straße des 17. Juni aussehen / Credits: Tom Meiser & Timo Schmid; https://realutopien.info

Um unsere Städte im heißer werdenden Klima zu kühlen, braucht es eine neue Stadt- und Verkehrsplanung, die wiederum CO2-freien Verkehr begünstigt. Städte speichern Hitze besonders stark in Beton, Glas, Stein und Asphalt. Es kann dort bis zu zehn Grad heißer werden als im Umland.[10] Dagegen hilft der Umbau der Stadt zur "Schwammstadt": Parks und Grünflächen müssen erweitert, asphaltierte Flächen entsiegelt werden, damit sie mehr Regenwasser aufnehmen und es bei Hitze als "Kühlungsinseln" wieder abgeben können.[11]

Berlin als Schwammstadt braucht also weniger Straßen und Parkplätze. Doch dafür muss der motorisierte Individualverkehr aktiv zurückgebaut und der öffentliche Nahverkehr massiv ausgebaut werden. Beides braucht es auch für die Transformation zur klimaneutralen Mobilität. So schließt sich der Kreis: Ein klimaneutrales Berlin wie es der Volksentscheid fordert, ist auch ein klimaangepasstes Berlin, in dem die Bürger:innen gut und gesund leben können. 

Berlin braucht eine Klimavision

Allein der Umbau zur Schwammstadt zeigt, dass die Stadt vor großen Herausforderungen steht. Deshalb den Kopf einzuziehen, wie es die Politik oft genug tut, wäre aber genau die falsche Reaktion. Je größer die Aufgaben sind, desto dringender ist es, sie genau jetzt abzuschätzen. Und dann in der demokratischen Auseinandersetzung zu klären, wie man sie angehen kann, nicht ob oder wann man sich ihnen stellt. Was dabei hilft: Ein Gesamtbild aller Herausforderungen und ein Zielbild von der Stadt der Zukunft, die man gestalten möchte.

Yes we can Volksentscheid!
Berlin 2030 klimaneutral ist möglich / Credits: Klimaneustart Berlin

Genau zu diesem Zweck bietet das Netzwerk LocalZero die "Klimavision" an, einen Fahrplan zur Klimaneutralität, der für jede Stadt in Deutschland per Mausklick erzeugt werden kann. Die Klimavision liefert überschlägige Zahlen, die Orientierung bieten und dabei helfen, Tacheles zu reden. Das Tool wird von Bürger:innen genauso genutzt wie von Klimaschutzmanager:innen, Kommunalverwaltungen und Bürgermeister:innen in zahlreichen Kommunen.

Klimaneustart Berlin hat eine solche Klimavision erstellt und skizziert damit die Größenordnungen und wichtigsten Meilensteine für den Weg Berlins zur Klimaneutralität. 

Um beim Thema Verkehr zu bleiben: Als zentrale Maßnahmen für klimaneutralen Verkehr nennt die Klimavision für Berlin u.a.

· Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit,
· 2 Meter breite, geschützte Radwege sowie Radschnellwege für Pendler:innen,
· ein engmaschiges und hochfrequentes ÖPNV-Netz sowie
· den forcierten Umstieg auf E-Mobilität.

Dafür sind Investitionen von rund 57 Milliarden Euro nötig, 21 Milliarden davon als Investitionen der öffentlichen Hand. Investitionen in die Rad-Infrastruktur machen davon lediglich rund 27 Millionen jährlich aus. Für höhere Taktraten in einem engmaschigen ÖPNV-Netz braucht es rund 3030 klimaneutrale Busse. Für die erwartete Zahl von einer Million Elektroautos im Jahr 2030 müssen 58 200 öffentlich zugängliche Ladepunkte gebaut werden. Für Mobilitätsdienstleistungen und den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur könnten 14 200 neue Vollzeitstellen entstehen. 

Keine Angst vor großen Zahlen

Allein 57 Milliarden für den Verkehr, und das im chronisch klammen Berlin? Die gesamten Investitionen für ein klimaneutrales Berlin beziffert die "Klimavision" auf 113 Milliarden Euro in den nächsten sieben Jahren. [12] Derart große Zahlen können Angst machen. Doch sieht man genauer hin, weicht die Angst den Chancen: Rund 75 Prozent dieser Investitionen von der lokalen Wirtschaft getätigt, die sich damit Chancen zur Wertschöpfung erschließt. Dieses wirtschaftliche Potenzial zeigt sich auch an insgesamt rund 35 000 neuen Arbeitsplätzen, die im Rahmen der Transformation entstehen. Und schließlich gilt es auch mit einzurechnen, welche Klimafolgekosten sich durch diese Investitionen vermeiden lassen. Die Klimavision rechnet hier mit rund 88 Milliarden Euro, die Berlin sich erspart, wenn es Klimaschäden vermeidet. 

Autofreie Torstraße in Berlin
Autofreie Torstraße in Berlin / Credits: Tom Meiser & Timo Schmid; https://realutopien.info

Berlin kann also viel bewegen, wenn es beschließt, bis 2030 klimaneutral zu werden. Doch es steckt auch ein wahrer Kern im eingangs erwähnten ablehnenden Argument des Senats: Berlin ist für den Weg zur Klimaneutralität auf Rahmenbedingungen des Bundes angewiesen. Es gibt wichtige Hebel für starken Klimaschutz, bei denen der Bund auf der Bremse steht, weshalb Städte und Gemeinden, die bei der Klimaneutralität vorangehen, nicht so schnell vorankommen, wie sie wollen. Bei ihren Bemühungen stoßen sie gewissermaßen an eine gläserne Decke der Bundesgesetzgebung, die sie daran hindert, zu 100 Prozent fossilfrei zu werden. 

Bei der Verkehrswende zum Beispiel wollen hunderte von Städten flächendenkend Tempo 30 auf ihrem Gebiet beschließen. Doch aktuell lassen das Straßenverkehrsgesetz und die Straßenverkehrsordnung das nicht zu. Verkehrsminister Wissing sperrt sich gegen eine Änderung.

Will Berlin seine eigene Energiewende voranbringen, kann es zwar auf allen Dächern Photovoltaik-Anlagen installieren und den grünen Strom, den es zusätzlich dazu noch braucht von deutschen Stromanbietern beziehen. Allerdings: Würden das alle Städte bis 2030 oder 2035 anstreben, reichten die Kapazitäten nicht aus. Dafür geht der Ausbau der Erneuerbaren Energien in Deutschland nicht schnell genug voran. Die Koalition hat das Ziel, bis 2035 100 Prozent Ökostrom zu erreichen, nicht zuletzt auf Betreiben der FDP gestrichen.

Was die Klimawende als Jobmotor angeht, steckt hier zwar enormes Potenzial, doch aktuell fehlen qualifizierte Kräfte. Allein für den Ausbau der Solar- und Windenergie fehlen laut Institut der deutschen Wirtschaft 216.000 Fachkräfte.[13] Hier braucht es Maßnahmen wie ein angepasstes Einwanderungsrecht, Weiterbildungsförderung oder eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie, die über Bundesgesetze einheitlich geregelt werden müssen.[14]

Und schließlich ist da die Frage der Finanzen. Aktuell delegieren Bund und Länder wichtige Klimaschutzaufgaben zwar an die Kommunen, doch sie stellen diesen nicht die dafür nötigen Mittel bereit. Beispiele sind die Novellierungen der Gesetze zum Ausbau der erneuerbaren Energien oder das neu geplante Energieeffizienzgesetz. Da den Kommunen angesichts ihrer oft klammen Kassen das Geld nicht ausreicht, bleiben diese Aufgaben unerledigt. Um den Kommunen Finanzierungssicherheit zu geben, ist nichts weniger als eine Anpassung des Grundgesetzes nötig, die Klimaschutz- und Klimaanpassungsmaßnahmen als Gemeinschaftsaufgabe von Bund, Ländern und Kommunen verankert. Auch ein festes Finanzbudget ist für die Städte und Gemeinden eine unverzichtbare Grundlage, um den Weg zur Klimaneutralität langfristig planen zu können. Diese und weitere Forderungen hat im Januar 2023 ein breites Bündnis aus mehreren Städten und großen Verbänden an die Bundesregierung und die Bundesländer gerichtet.[15]

Es braucht den Druck der Städte auf den Bund

Eingangs zitierten wir den Berliner Senat, der die Ziele des Volksentscheids "Berlin 2030 klimaneutral" ablehnt mit der Begründung, es fehle an ausreichend ehrgeizigen Zielvorgaben im Bund und in der EU. Und tatsächlich zeigen Beispiele wie die Blockade von Tempo 30 in den Städten oder die nötige Änderung des Grundgesetzes zur ausreichenden Unterstützung der Kommunen: Auf dem Weg zu klimaneutralen Städten haben sich beim Bund zahlreiche Hindernisse angestaut, die dieser aus dem Weg räumen muss.

Um das zu erreichen, machen immer mehr Kommunen Druck: Mehr als 360 Städte haben sich in der Initiative Lebenswerte Städte[16] zusammengeschlossen, um selbstbestimmt Tempo 30 einrichten zu können. Mit dem Klima-Bündnis[17] fordern mehr als 600 Städte gemeinsam mit dem DGB, der Klima Allianz Deutschland, misereor und anderen Verbänden eine Verankerung von Klimaschutz- und Klimaanpassungsmaßnahmen im Grundgesetz. Berlin gehört beiden Bündnissen an.

Briefwahl für den Volksentscheid
Hohe Wahlbeteiligung gefragt: Briefwahl macht die Teilnahme am Volksentscheid einfach / Credits: Klimaneustart Berlin

Jetzt wird es Zeit, dass die Stadt sich auch dem stetig wachsenden Kreis der Städte anschließt, die bei der Klimaneutralität vorangehen. Berlin kann und muss zum Leuchtturm für Klimaneutralität werden. Mehr als 180 000 Bürger:innen sehen das genauso und haben mit ihrer Unterschrift den Volksentscheid "Berlin 2030 klimaneutral" gefordert. Jetzt geht es darum, diesen Volksentscheid zu gewinnen!

Redaktionsnotiz: In einer früheren Version hieß es, die Teams von LocalZero hätten in 34 Städten einen Klimaneutralitätsbeschluss bewirkt. Wir haben die Zahl auf 37 korrigiert.

Mache "Berlin 2030 klimaneutral" erfolgreich!

Quellen

Dossier zu kommunalem Klimaschutz

Dossier zu kommunalem Klimaschutz

Klimaneutralität bis 2035 "von unten" - Was Kommunen leisten (können) und wo der Bund in der Pflicht ist

Jeden Monat gute Nachrichten